unnatürlich gewachsenes Dorf und etwas Dorfgeschwätz

Was halt nirgendwo passt
Olaf
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unnatürlich gewachsenes Dorf und etwas Dorfgeschwätz

#1

Beitrag von Olaf » So 20. Feb 2011, 20:51

Moin,
letzte Woche saßen wir mit ein paar Leuten von Oldtimerverein, unter anderem um Veranstaltungen zu planen.
Zum Beispiel müssen wir aufpassen, terminlich nicht mit der Nachbargemeinde zu kollidieren, die alle 2 Jahre ein riesen Treckertreffen veranstalten und uns das Publikum abjagen würde.
Meine Frage, warum bei denen eigentlich das halbe Dorf mithilft, und bei uns nur Dödels sind, die zum Teil noch nichtmal zum Gucken den A.. vom Sofa kriegen brachte eine interessante Antwort: "Die sind ja auch ein natürlich gewachsenes Dorf!"
Und in der Tat, unser Nest ist eigentlich kein richtiges Dorf.
Es gab ein richtiges, kleines Dorf, mit Kirche, Kneipe, Tante-Emma-Laden.
In den 20ern hat das Preusische Kultusministerium beschlossen, zur besseren Versorgung von Berlin hier "Farmer" anzusiedeln.
Es wurden so (schätz ich mal) 40 Häuser, alle gleich hingestellt, dazu gabs 10 Morgen Land und nen Hühnerstall von 6 x 30 m, hab grad abgeschritten. Die "Siedlung", (die Alten unterscheiden noch "die Siedlung" und "das Dorf") kriegte ein Wasserwerk und zentrales Trinkwasser. Die andern Dörfer hattesn das so 2000 oder noch später.
Geplant wurde das alles zusammen mit der Freien Universität Berlin, und da müssen wahre Schreibtischtäter gesessen haben.
Wir konnten uns gestern nicht auf ne Bodenzahl einigen, aber vielleicht so 25. Ich jedenfalls hab hier noch ne "Unfruchtbarkeitsbescheinigung" aus DDR-Zeiten, damit hat sich mein Opa von der Agrarsteuer befreien können. (Beim Finanzamt nennt sich das "Unland".) 5 km weiter haben die Zisterzienser 1180 ein Kloster gegründet, schwarze feuchte humose Erde. Die wußten, was sie tun. Die in Berlin nicht. Das ganze liegt in einer Frostfalle, wir haben hier morgens oft 3 Grad weniger als da am Kloster. (Ich arbeite da, und nein, nicht als Mönch :holy: :lol: ).
Mein Uropa hat dem Erzählen meiner Oma nach 800 Obstbäume gepflanzt, im ersten Winter sind ihnen 300 davon erfroren.
Eisheilige - deshalb kamen wir gestern noch mal auf das Thema - immer schön rein in die Blüte. Unser Freund, mit dem wir gestern das Thema noch mal augegriffen haben, Gärtner in der 2. Generation hier meint, 2 von 3 Jahren Totalausfall bei Äpfeln, der wohnt allerdings noch nen Meter tiefer und auch dichter an der "Fenne", von wo die kalte Luft einfällt.
Gekauft haben das dann soche Narren wie mein Uropa, der vorher mit seinem Sohn am anderen Ende der Welt nach Öl gebohrt hat. Beruf Ölbohrmeister, sein Sohn hatte 2 Facharbeiter, Bohrarbeiter und Kfz-Schlosser. Also: größenwahnsinnig, ohne jede Fachkenntis von Landwirtschaft und vielleicht von einem Selbstversorgertraum beseelt. Ich muß grad lachen, da hab ich wohl ne Menge geerbt...
Naja, ich komm vom Thema ab, kurz, es ist alles schiefgelaufen, was sie angefasst haben, bis sie sich einen LKW gekauft haben und das Zeug der anderen, die offenbar erfolgreicher waren morgens nach Berlin gefahren haben und die Hotels damit beliefert. Der Laden brummte, der 2. LKW war angezahlt, dann hat Adolf den LKW für seinen Krieg konfisziert und dann war das auch gelaufen.
Nun gut, wie sie dann so sv-mäßig durch den Krieg gekommen sind, mit ca. 15 Personen, die ausgebombte Verwandschaft aus Bln. ist eine andere Geschichte.
Bei Kriegsende sind viele geflohen, manche haben sich erhängt, und das aus gutem Grund, wie sie mit den polnischen Fremdarbeitern umgegangen sind. Andere sind gekommen.
In der DDR wurden dann hier massiv Gewächshäuser aufgestellt, fast wie in Holland, nur ohne Grachten.
Dafür wurde die Fenne (hier sagen die Leute "die Fenne", in meiner Heimatstadt sagt man "das Fenn" - falls der Begriff ungeläufig sein sollte, das ist son Moorsee in etwa) ausgebaggert. Hier fangen auch meine echten Erinnerungen (ich war hier nur in den Ferien), so ab 70 vielleicht an, erst nur ein kleines Loch, dann jahrelang Bagger, jetzt ist es ein richtiger kleiner See, vielleicht so 800 m lang und max. 100 breit. Mit 2 Badestellen. Da bin ich nicht traurig um den Torf, auch wenns unöko ist.
In dem Zuge haben sie aber noch eine neue Straße ausgebaut, für die Arbeiter in den Gewächshäusern.
Mit so komischen Beton-Welldächern. WIr nennen es China-Town.
Dann gabs noch die Armee, mit so richtig schönen DDR-Plattenbauten. Wir nennen es "das Ghetto".
Die Armee ist weg. Die Hartzer bleiben.
Nach der Wende ist da oben aus nem Acker Bauland geworden, da stehen jetzt so 80 oder 100 Reihenhauswohneinheiten.
Die Straße heißt "am Hang", wir nennen das ganze "das Ghetto am Hang".
So leben jetzt hier an die 2000 Seelen.
Es ist keine Stadt, aber es ist auch kein Dorf. Ein zusammengewürfelter Haufen, wofürs keinen Namen gibt. Kein Wunder, dass hier nichts läuft.
Und so eben ein unnatürlich gewachsenes Dorf.
Wer jetzt nach einem Sinn sucht, sucht vergebens. Hab nur laut nachgedacht.
LG
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Re: unnatürlich gewachsenes Dorf und etwas Dorfgeschwätz

#2

Beitrag von die fellberge » So 20. Feb 2011, 21:33

Gut gebrüllt Löwe!!!!!!!!!

Sehr erbaulich zum lesen und ich hab gerade den Eindruck du wohnst in einer Stadt- wir hier mit unseren mickrigen 35 Häusern :holy:
Übrigens, bis auf die Zugezogenen, alles ehemahlige Angestellte und Arbeiter des Gutshauses, das noch bis in die letzten Kriegstage bewirtschaftet wurde.

Als die Russen im Anmarsch waren, haben sich die Gutsbesitzer vom Gärtner erschiessen lassen, der Jäger wollte nicht.

Wir wohnen beim Schweinemeister :fypig:
Jeder Mensch ist schlau- der eine vorher, der andere hinterher!

LG Marianne

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Re: unnatürlich gewachsenes Dorf und etwas Dorfgeschwätz

#3

Beitrag von Theo » So 20. Feb 2011, 21:56

die fellberge hat geschrieben:Als die Russen im Anmarsch waren, haben sich die Gutsbesitzer vom Gärtner erschiessen lassen, der Jäger wollte nicht.
Wär ja auch nicht waidgerecht :mrgreen:
Gruß
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Olaf
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Re: unnatürlich gewachsenes Dorf und etwas Dorfgeschwätz

#4

Beitrag von Olaf » So 20. Feb 2011, 23:27

Uropa hat sich beim Bürgermeister beschwert, wie die Nachbarn mit der Polin umgehen.
"Herr U., das Gespräch vergessen wir mal ganz schnell, normalerweise müßte ich Sie anzeigen."
------------
"Unser" Pole, Joseph, ich war logischerweise nicht geboren, hatte einen Verschlag im Hühnerstell. Bis in meine Zeit genannt "Josephs Kammer". Ich hab den noch etliche Jahre als Werkstatt benutzt, Luidpold hätte seine Freude dran gehabt, wie der nach dem damaligen Stand der Technik isoliert war. Kanonenofen incl. Für die Jüngeren - es war verboten, Fremdarbeiter ins Haus zu lassen, die sollten im Stall bei den Tieren schlafen.
Die Nachbarn, die mit der Polin haben sich aufgehängt, Mann Frau und 2 Kinder, mein Opa hat, leicher Grusel für uns Zwerge, uns gezeigt, wo er die abgeschnitten hat.
Joseph wollte nach Kriegsende nicht zurück, mußte aber. Haben die Allierten so ausgehandelt. Aber ich bin auch ein bisschen stolz auf meine (Ur-)Großeltern, dass die Mensch geblieben sind...

LG
Olaf
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Re: unnatürlich gewachsenes Dorf und etwas Dorfgeschwätz

#5

Beitrag von AnamPrema » Mo 21. Feb 2011, 00:31

Wer jetzt nach einem Sinn sucht, sucht vergebens. Hab nur laut nachgedacht.
Ja, vielleicht Olaf, ...

aber vielleicht auch,
weil sich die Menschen/Du
und auch das "Nicht-Dorf"
innerlich irgendwie nach einem Sinn/Zusammenhalt sehnen
und Du das einfach mal ausgesprochen hast.

Wenn dem so sein sollte :)
dann gibts z.B. einen Weg das möglicherweise zu handhaben.
Ein nicht gewachsenes Dorf hat keine Geschichte,
keine eigene Kultur, ... und so keinen Zusammenhalt
doch vielleicht "sucht" ihr alle irgendwie danach
(ET - nach Hause)

Was könnte alle Menschen dort verbinden?
Gibts ein gemeinsames Interesse, eine Idee, ein Projekt,
das einen Großteil der Menschen dort begeistern könnte?
(Oldtimer sinds ja anscheinend nicht)

Aber vielleicht die Organisation eines Apfelblütenfestes oder oder oder

Lass es mal wirken,
vielleicht kommt eine Inspiration und bringt Euch auf den Weg.

AnamPrema

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Re: unnatürlich gewachsenes Dorf und etwas Dorfgeschwätz

#6

Beitrag von die fellberge » Mo 21. Feb 2011, 00:36

Na ja, da meine Urgrosseltern, mit Grossmutter und meiner Mutter inclusive der Meisten des Dorfes aus Pommern geflüchtet sind und per Losverfahren nach NRW kamen, kann ich da auch einiges aus der Familiengeschichte erzählen- und pommerschen Dialekt kann ich ausserdem auch noch verstehen :)

Sie haben auch die erste Zeit im Pferdestall gewohnt- nicht geliebt von den Dorfbewohnern!
Jeder Mensch ist schlau- der eine vorher, der andere hinterher!

LG Marianne

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Re: unnatürlich gewachsenes Dorf und etwas Dorfgeschwätz

#7

Beitrag von Olaf » Mo 21. Feb 2011, 08:31

Gibts ein gemeinsames Interesse, eine Idee, ein Projekt,
das einen Großteil der Menschen dort begeistern könnte?
(Oldtimer sinds ja anscheinend nicht)
Ach, wir hatten letztes Jahr ca. hundert Fahrzeuge da und im Laufe des Tages ein paar hundert Zuschauer.
Paßt nicht her, aber wens intererssiert: http://www.oldtimerfreunde.damsdorf-online.de/
Dieses Jahr hat sich die Gemeinde ausnasen wollen, ob wir nicht gleich ein Dorffest draus machen wollen.
Naja, von uns aus, klar, aber jeder ist für seinen Teil allein verantwortlich. Sonst kriegen nämlich die paar Vereine gleich wieder das Zanken.
Und dann gibts noch Leute, die kriegste nur aus dem Haus, wenn Du denen ne Bombe unters Sofa schiebst.
Um die ists aber auch nicht schade... :pfeif:
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Re: unnatürlich gewachsenes Dorf und etwas Dorfgeschwätz

#8

Beitrag von Olaf » Mo 21. Feb 2011, 08:37

aus Pommern geflüchtet sind
komisch. Man könnte meinen, halb Deutschland hat in Pommern und Schlesien gewohnt...meine väterliche Linie, die meiner Frau und meines Nachbarn, der Vorbesitzer des Nachbarhauses.
Das wurde ausgelost wohin man kam? Das wußte ich nicht...
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Re: unnatürlich gewachsenes Dorf und etwas Dorfgeschwätz

#9

Beitrag von die fellberge » Mo 21. Feb 2011, 12:52

Ja in den Auffanglagern,z.B. Friedberg- jedes Bundesland musste eine bestimmte Anzahl Flüchtlinge "nehmen"!

Die Kontingente wurden dann ausgelost- die Dorfgemeinschaften und Familien versuchten zusammenzubleiben- bei uns hat es nicht ganz geklappt- ein Teil der Familie und des Dorfes wurde in der Lüneburger Heide angesiedelt.
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Re: unnatürlich gewachsenes Dorf und etwas Dorfgeschwätz

#10

Beitrag von Dagmar » Mo 21. Feb 2011, 15:43

Hallo,

ja bei uns haben die beiden Weltkriege auch dazu geführt, daß die Familie weit auseinander gewürfelt wurde.

Meine Großmutter kam als sehr junges Mädchen in den Wirren nach und während der russischen Revolution, von Russland aus nach Ostpreußen. Hat dort geheiratet und der Mann blieb dann während des II. Weltrieges auf dem "Feld der Ehre" :hotti: irgendwo in Russland. Die Großmutter (mütterlicherseits) mit drei kleinen Kindern flüchtete nach Westfalen. Die eine Tochter (meine Mutter) heiratete dort einen Mann der auch aus Ostpreußen stammte. Ihre Schwester (meine Tante) ging nach Hannover und Ihr Bruder (mein Onkel) in die Vereinigten Staaten von Amerika.

Ich habe drei Geschwister, mein Bruder lebt in Niedersachsen, eine Schwester in NRW und eine in Rheinland-Pfalz. Ich bin derzeit in BW und ziehe dann nach Sachsen.

Irgendwie schon ein bißchen Zigeunerhaft - aber das scheint in der heutigen Berufswelt ja auch immer mehr zur "Normalität" zu werden.


Dagmar
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